Infrastruktur und Macht

Im Juli 1995 trifft eine Hitzewelle auf Chicago in den USA, die nach wenigen Tagen hunderte Tote fordert. Allerdings trifft sie nicht alle Menschen gleich schwer. In der Stadt werden zwischen den Vierteln drastisch unterschiedliche Sterberaten festgestellt. Diese Unterschiede führt der Chicagoer Soziologe Eric Klinenberg auf Unterschiede in der physischen Infrastruktur zurück, die das Verhalten der Bewohner:innen in der Hitzewelle beeinflussen. Da sich Theorien der Macht mit der Beeinflussung von menschlichem Verhalten befassen bietet sich eine Verknüpfung von Macht und Infrastruktur an. In diesem Artikel möchte ich daher Klinenbergs Beobachtungen mit Popitz’ Theorie einer Datensetzenden Macht verknüpfen.

Die Hitzewelle

Eine Hitzewelle trifft grundsätzlich nicht alle Menschen gleichermaßen. Ein hohes Alter, wenig Geld oder alleine wohnen sind Faktoren, die Hitzewellen für die betroffenen Personen noch gefährlicher machen. Diese Faktoren lassen sich auch auf einer Stadtviertel-Ebene betrachten. Viertel mit einem höheren Anteil älterer, ärmerer oder allein lebender Personen zeigen tendenziell auch eine höhere Sterberate im Falle einer Hitzewelle.

Als Klinenberg beginnt, die Hitzewelle in Chicago zu untersuchen, legt er zunächst auch diese bekannten Faktoren an. Er erstellt zusammenpassende Paare von Vierteln, die sich in den relevanten Merkmalen ähneln. Dabei macht er eine überraschende Entdeckung. In einigen dieser passenden Paare zeigen die Viertel völlig entgegengesetzte Sterberaten. So ist etwadas Viertel Auburn Gresham mit einer der geringsten Sterberaten von allen Vierteln der Stadt durch die Hitzewelle gekommen, während das benachbarte Viertel Englewood, das demographisch ähnlich ist, mit die höchste Sterberate der ganzen Stadt aufweist. Durch die bisher bekannten Faktoren können diese Unterschiede also nicht erklärt werden.

Klinenberg führt Interviews mit den Bewohner:innen und findet dadurch heraus, dass sich die Menschen in den Vierteln mit geringerer Sterberate wie in Auburn Gresham während der Hitzewelle gegenseitig geholfen haben. In viel größerem Ausmaß als in den Vierteln mit höherer Sterberate. Während in einem Viertel Menschen also zu älteren Nachbar:innen gingen, Unterstützung und Kühlung anboten, starben im Viertel nebenan viele Menschen alleine zuhause. In Interviews äußerten die helfenden Personen, dass ihr Verhalten gar nicht außergewöhnlich sei. Nach den Nachbarn zu schauen, sei einfach, was sie immer machen, wenn es besonders heiß draußen ist. Was erklärt also diese Verhaltensunterschiede, dass die lebensrettende Hilfe in einem Viertel selbstverständlich ist und im Viertel nebenan viel weniger praktiziert wird?

Soziale Infrastruktur

In Folge seiner Forschungen macht Klinenberg “soziale Infrastruktur” als entscheidenden Aspekt aus. Soziale Infrastruktur ist jede physische Infrastruktur, die dazu führt, dass Menschen Zeit zusammen verbringen. Dazu zählen zum Beispiel Parks, Schulen, Büchereien oder Spielplätze. Klinenberg argumentiert, dass wenn Menschen an Orten zusammenkommen, sich ganz natürlich Kontakte und Beziehungen zwischen den Menschen entwickeln. Soziale Infrastruktur ist die physische Umgebung, die ermöglicht, dass sich zwischenmenschliche Beziehungen entwickeln.

Das Konzept lässt sich beispielhaft an einem Fußballplatz erkennen. Auf dem Platz kommen Menschen, vor allem Kinder, zusammen, um gemeinsam zu spielen. Das Spiel, ob in der Freizeit oder im Verein, bringt dabei Menschen aus unterschiedlichen Kontexten zusammen, die sich anderweitig womöglich nicht begegnet wären. Beim Spielen haben sie die Möglichkeit, sich kennenzulernen und Freundschaften untereinander zu schließen. Das kann sich auf ihr ganzes soziales Umfeld auswirken. So kommen etwa auch die Eltern von Kindern im Verein in Kontakt, wenn sie sich bei Spielen oder Veranstaltungen treffen. Der Punkt ist der, dass all diese zwischenmenschlichen Beziehungen nicht entstehen würden, wenn nicht ein Sportplatz existieren würde, auf dem in der Freizeit oder im Verein Fußball gespielt werden kann.

Soziale Infrastruktur trägt somit einen erheblichen Teil zum alltäglichen Leben der Bewohner:innen bei. Sie ist jedoch auch von besonderer Bedeutung während Katastrophen wie der Hitzewelle. Während seiner Feldforschung fällt Klinenberg auf, dass die demographisch ähnlichen Viertel mit unterschiedlichen Sterberaten unterschiedliche soziale Infrastruktur aufweisen. Während es in Auburn Gresham Parks, Spielplätze und öffentlichen Raum gibt, existieren in Englewood heruntergekommene Grundstücke, Müllhalden und private Häuser. Entsprechend höher ist der soziale Zusammenhalt in Auburn Gresham. Die Menschen dort haben sich also während der Hitzewelle nicht deshalb mehr geholfen, da sie irgendwie freundlicher oder hilfsbereiter wären als die Menschen in Englewood, sondern weil die physischen Bedingungen in Auburn Gresham so sind, dass sie eher zwischenmenschliche Beziehungen voller Freundschaft und Hilfsbereitschaft entstehen lassen.

Aufgrund seiner Forschung argumentiert Klinenberg daher, soziale Infrastruktur stärker in die Städteplanung einzubeziehen und physische Infrastruktur verstärkt zu sozialer Infrastruktur (um-)zubauen. Dies könnte weitreichende positive Auswirkungen auf die Bewohner:innen haben.

Datensetzende Macht

An diese Argumentation von Klinenberg möchte ich anschließen, in dem ich nun den Ausbau sozialer Infrastruktur mit Theorien der Macht verknüpfe. Dafür nutze ich das Machtkonzept von Heinrich Popitz, da sich darin eine Beschreibung einer Ausübung von Macht durch Objekte findet, von der aus sich gut eine Brücke zu sozialer Infrastruktur schlagen lässt.

Popitz Machtkonzept verortet sich in der Tradition von Max Weber, der Macht als das Potenzial definiert, seinen Willen in einer sozialen Beziehung auch gegen Widerstand durchzusetzen. (Hier findest du eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Definition.) Da bei Weber unklar bleibt, wie dieses Durchsetzen geschieht, macht Popitz sich daran, dies zu konkretisieren. Dafür beschreibt er in seinem Hauptwerk “Phänomene der Macht” vier anthropologische Machtformen. Anthropologisch heißen die deshalb, da sie von dem ausgehen, was Menschen tun können – und was Menschen angetan werden kann.

Eine dieser Formen ist die Datensetzende Macht. Diese begründet sich zum einen darin, dass Menschen ihre physische Umgebung verändern können. Zum anderen begründet sie sich darin, dass Menschen in ihrem Handeln durch ihre physische Umgebung beeinflusst sind. Ein plumpes Beispiel: Wo eine Mauer ist, kann ein Mensch nicht durchgehen. Aber ein Mensch ist in der Lage, eine Mauer zu bauen oder sie wieder zu zerstören. Dadurch können Menschen aber eben nicht nur ihre eigene physische Umgebung verändern, sondern auch die von anderen Menschen. Menschen können indirekt die Handlungen von anderen Menschen beeinflussen, indem sie Veränderungen an der physischen Umgebung vornehmen. Das geht von Mauern und Gefängnissen bis hin zu Fußwegen. Eine kleine Bordsteinkante reicht, um das Verhalten von Menschen zu lenken. Diese Form der Macht wird Datensetzende Macht genannt, da Popitz alle Veränderungen der physischen Umgebung als neue Daten begreift. Mit dem Hinzufügen oder Entfernen von Daten wird Handeln beeinflusst. Datensetzende Macht ist eine Form von Macht, die von Objekten vermittelt wird. Popitz fasst es zusammen, indem er schreibt, dass mit Datensetzender Macht Menschen Macht über die physische Umgebung ausüben, aber eben nicht nur über die physische Umgebung, sondern darüber hinaus auch über andere Menschen.

Auch hier können wir noch einmal kurz das Beispiel des Sportplatzes aufgreifen. Wenn beispielsweise die Stadt den Sportplatz an Investoren verkaufen und diese sich dazu entschließen, ein Wohngebäude, ein neues Datum, darauf zu errichten, dann können die Kinder zwar noch in der Straße davor kicken, aber die Möglichkeit, vor Ort in einem Verein mit den entsprechenden sozialen Beziehungen zu spielen, ist nicht mehr gegeben. Die Handlung der einen beeinflusst in diesem Fall die Handlungen der anderen, aber eben auf eine indirekte, über die physische Umgebung vermittelte Art und Weise.

Soziale Infrastruktur und Datensetzende Macht

Für Bewohner:innen mag die An- oder Abwesenheit sozialer Infrastruktur in ihrem Viertel wie etwas gegebenes erscheinen, das schon immer so war. Das ist es aber nicht. Soziale Infrastruktur ist menschengemacht. Durch sie sind Menschen in der Lage, das Verhalten anderer Menschen auf eine bestimmte Art und Weise zu beeinflussen. Der Akt des Planens, Designens und Bauens Sozialer Infrastruktur kann demnach als eine Form Datensetzender Macht verstanden werden.

Soziale Infrastruktur in Begriffen der Macht zu verstehen bedeutet, nicht bei der Erkenntnis stehen zu bleiben, dass und wie sich Soziale Infrastruktur auf das Leben von Bewohner:innen auswirkt, sondern die Politik dahinter zu adressieren. Investment in (soziale) Infrastruktur ist eine politische Entscheidung. Soziale Infrastruktur in Begriffen der Macht zu verstehen kann dazu beitragen, dass Entscheidungsträger:innen den Ausbau Sozialer Infrastruktur als den mächtigen Hebel verstehen, der er sein kann. Und es kann Bewohner:innen bewusst machen, welche Macht bei ihnen selbst im Zusammenspiel mit physischer Infrastruktur liegt. Wenn Viertel brachliegen oder anonym zugebaut werden, kann ein Erkämpfen öffentlicher Räume vielfältige positive Auswirkungen haben.

Städtebau ist politisch immer umkämpft. Deshalb lohnt es sich, physischer Infrastruktur und Politik zusammendenken und die Verbindungen zwischen Sozialer Infrastruktur und Macht auch theoretisch zu fassen, um sie verstärkt ins Bewusstsein zu rücken.

Weiterlesen

Klinenberg, Eric (2002) Heat Wave. A Social Autopsy of Disaster in Chicago. 2. Ausgabe. Chicago/London: University of Chicago Press.

Klinenberg, Eric (2018) Palaces for the People. How Social Infrastructure can help fight inequality, polarization, and the decline of civic life. New York: Crown.

Popitz, Heinrich (2004) Phänomene der Macht. 2. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck.


Beitrag veröffentlicht

in

von

Kommentare

3 Antworten zu „Infrastruktur und Macht“

  1. Avatar von jschroe
    jschroe

    Danke für die Kommentare und auch für die Buchempfehlung! 🙂 Ich möchte vielleicht noch hinzufügen, dass auch die Infrastruktur, die eh gebraucht und gebaut wird, als Soziale Infrastruktur gebaut werden kann, wie zum Beispiel dieses Regenwasserauffangbecken, dass gleichzeitig ein Basketballplatz ist: https://www.urbanisten.nl/work/benthemplein

  2. Avatar von Annika
    Annika

    Ich denke nicht, dass diese Räume unbedingt viel Fläche brauchen. Sicherlich wäre das wünschenswert, ist aber keine notwendige Bedingung guter sozialer Infrastruktur.
    Kleine Freiräume oder Begegnungsorte, wie beispielsweise eine Bank zum Verweilen, ein nachbarschaftlich verwaltetes Kräuterbeet, ein Bücherschrank oder Tauschregal können der Anfang sein; sie sind sicherlich auch einfacher zu erkämpfen und zu erhalten, als große Flächen, um die sich auch wirtschaftliche Akteure streiten.
    Ich empfehle die Publikation “Die Keimzelle –
    Transformative Praxen einer anderen Stadtgesellschaft. Theoretische und künstlerische Zugänge”, die bei transcript erschienen ist. Hier eröffnet sich ein schöner & motivierender Zugang zu transformativer Stadtentwicklung und den Potenzialen des Selber Machens. Jede*r Einzelne hat (datensetzende) Macht.
    Aber hier ging es ja gerade darum, die politische Verantwortung zu adressieren und nicht wie so oft auf die Individuelle und Bürger*innenebene abzuwälzen. Es braucht also ein Umdenken in der Stadtentwicklungsplanung, andere Maßstäbe als Renditen und autogerechte Infrastruktur sowie den Mut, diese auch durchzusetzen. Ich denke hier müsste man Verbindungen von individueller und politischer Ebene schaffen: Planung und Entscheidungsfindung dezentralisieren, also Bewohnende aller Altersgruppen aktiv in die Gestaltung ihres Kiez oder Stadtteils einbeziehen. Dann erhöhen sich die Chancen, dass der Fußballplatz nicht Investoren zum Opfer fällt.

  3. Avatar von Pascal
    Pascal

    Wie aussichtsreich schätzt du die Möglichkeit ein solche sozialen Räume im Stadtraum zu erkämpfen? Sie versprechen ja keine direkte Rendite für Städte oder private Investoren (langfristige Kostensenkungen, z.B bessere psychische und physische Gesundheit durch den sozialen Zusammenhalt, lassen sich immer schlecht verkaufen). Besonders in Städten mit Wohnungsnot, würde doch jeder Quadratkilometer, der statt für einen anonymen Wohnblock für einen Sportplatz verbaut werden würde, als Verschwendung beschimpft. Sogar parteiübergreifend würde man sich mit dem kleinen 20qm^2 Spielplatz zufrieden geben, als große Flächen für soziale und kostenlose Räume zur Verfügung zu stellen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert