„Macht bedeutet jede Chance, in einer sozialen Beziehung seinen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“.1
Max Webers Definition von Macht ist die Definition von Macht. Sie ist im Akademischen und, wie ich finde, auch im Alltäglichen allgegenwärtig. Wenn von „den Mächtigen“ gesprochen wird, schwingt dieses Durchsetzen des Willens gegen Widerstand immer mit. Da Webers Definition nach über hundert Jahren noch aktuell und präsent ist, verdient sie besondere Aufmerksamkeit – aber auch eine kritische Auseinandersetzung. Das kann als Kontrast für die weitere Auseinandersetzung mit anderen Machtdefinitionen dienen.
Was steckt alles in dieser Definition?
Ich möchte diese Definition betrachten, indem ich sie Schritt für Schritt durchgehe. Dafür unterteile ich die Definition in kleine Sinn-Abschnitte. Ich finde, diese Technik eignet sich immer gut, um möglichst keine Aspekte einer langen Definition zu unterschlagen. Insbesondere möchte ich eingehen auf die Aspekte „Wille“ und Widerstand“, die ich für besonders kritisch halte. Die ersten beiden Abschnitte der Definition zu „Chance“ und „Beziehung“ sind dagegen eher unstrittig und unter Machtdefinitionen weit verbreitet. Damit geht’s direkt rein in die Definition:
„Macht bedeutet jede Chance…“
Der interessante Punkt ist hier meiner Ansicht nach: Macht muss gar nicht ausgeübt werden, sie ist erst einmal nur als Möglichkeit vorhanden. Es gibt die Möglichkeit, sie auszuüben, sie nicht auszuüben, oder sie auch nur bis zu einem gewissen Grad auszuüben.
Ein Beispiel: Eine Herrscherin lässt einen kleinen Protest mit Gewalt niederschlagen und in der Folge kommt es zu noch größeren Protesten. Eine andere Herrscherin mag in derselben Situation jedoch auch auf diese Machtausübung verzichten und in der Zukunft dadurch mit weniger Widerstand konfrontiert sein. Wer von beiden ist nun mächtiger? Mit Webers Machtdefinition ließe sich nur sagen, dass beide gleich mächtig sind, da es bloß darauf ankommt, ob das Potenzial besteht, den Aufstand niederzuschlagen und nicht wichtig ist, ob die Herrscherin es tatsächlich tut. Ich finde es dennoch interessant, dass der Verzicht auf die eigene Machtausübung möglicherweise zu größerem Machterhalt führen kann als die Macht auszuüben. Das Machtpotenzial ist also dynamisch. Macht auszuüben kann das Machtpotenzial sowohl schmälern als auch vergrößern, genauso wie Nichtausübung der Macht diese schmälern oder vergrößern kann.
Für Webers Definition lässt sich also festhalten, dass Macht als ein Potenzial verstanden wird. Allerdings sagt sie auch wenig darüber aus, was passiert, wenn Macht ausgeübt oder nicht ausgeübt wird.
„…in einer sozialen Beziehung…“
Macht wird hier als etwas verstanden, das zwischen Menschen ausgeübt wird. Auch dieser Aspekt ist unter Machttheorien weit verbreitet.
Aber wird nicht auch oft davon gesprochen, dass Menschen Macht über die Natur ausüben? Etwa, indem sie Flächen planieren, Gebäude bauen, Gebäude wieder abreißen und Flächen renaturieren?
Ich finde, es gäbe gute Gründe, neben der sozialen Beziehung auch die Beziehung zur Natur oder die Beziehung zu sich selbst auch in Begriffen der Macht zu fassen. Ehrlich gesagt bin ich hierbei aber noch nicht über die bloße Idee hinaus und würde diesen Gedanken vielleicht noch einmal in einem eigenen Artikel behandeln. Wir nähern uns hier also erst einmal weiter dem Kern von Webers Machtdefinition:
„…seinen Willen…“
Hier wird’s spannend: Was ist denn mein Wille?
Problem: (Un-)eindeutigkeit des Willens
Ich nehme an, dass mein Wille nicht immer eindeutig ist und beispielsweise das, was ich kurzfristig will (z.B. im Bett liegen) nicht immer im Einklang steht mit dem, was ich langfristig will (z.B. einen Blog-Artikel schreiben). Auch in sozialen Beziehungen ist dieses Verhalten bekannt. Wenn ich jetzt meinen Willen gegen Widerstand durchsetze, mag das meine Beziehung zu der anderen Person beschädigen und damit entgegen meines langfristigen Willens stehen. Deshalb möchte ich hier einmal fragen: Wer ist mächtiger – die Person, die jetzt ihren Willen durchsetzt und damit ihren langfristigen Willen verfehlt oder die Person, die jetzt ihren Willen zurückstellt, um so einen langfristigen Willen zu verwirklichen? Mit Weber ließe sich eigentlich nur sagen, dass die Person am mächtigsten wäre, die das Potenzial hätte, sowohl ihren kurzfristigen als auch ihren langfristigen Willen durchzusetzen. Webers Machtbegriff ist hier nicht nuanciert genug und funktioniert eigentlich nur, wenn man einen widerspruchslosen und einheitlichen Willen annimmt. Dies entspricht jedoch nicht dem komplexen menschlichen Willen in der Realität. Wenn die Durchsetzung des einen Willens die Aufgabe des anderen bedeutet, wird Webers Definition vor Probleme gestellt, die mit ihr nicht beantwortet werden können.
Problem: Willensfreiheit
Ein zweites Problem ist das der Willensfreiheit. Und zwar meine ich, dass der menschliche Wille eben nicht komplett frei ist, sondern (bis zu welchem Grad auch immer) von äußeren Einflüssen wie Erziehung, Freundschaften, Bildung, Religion, Diskursen oder ähnlichem mitgestaltet wird. Damit lässt sich fragen: Wie mächtig bin ich, wenn ich zwar das Potenzial habe, meinen Willen durchzusetzen, dieser Wille aber von anderen geformt wurde? Sind diejenigen, die meinen Willen geformt haben, nicht viel mächtiger? Oder bezieht sich mein Willen nur auf jenen Teil des Willens, der möglicherweise frei und unbeeinflusst ist und der gegebenenfalls auch in mir gegen äußere Einflüsse durchgesetzt werden muss? Willensfreiheit ist ein spekulatives Thema, aber gerade deshalb ist es problematisch, wenn eine Machtdefinition sich auf den Willen bezieht und sich damit all diese, zum Teil ungeklärten Fragen, ins Boot holt. Damit wird der Machtbegriff viel abstrakter und unkonkreter als er sein müsste, insbesondere im Vergleich mit anderen Machtdefinitionen, die das Konzept des (un-/freien) Willens umgehen.
„…auch gegen Widerstand durchzusetzen…“
An dieser Stelle möchte ich einmal Webers Definition von „Kampf“ zum Vergleich heranziehen: „Kampf soll eine soziale Beziehung insoweit heißen, als das Handeln an der Absicht der Durchsetzung des eigenen Willens gegen Widerstand des oder der Partner orientiert ist.“2 Hierbei wird deutlich: Webers Definition von Macht ist ganz nah an seiner Definition von Kampf, gerade da sie beide den Fokus auf die Durchsetzung des eigenen Willens gegen Widerstand setzen. Was in Webers Machtdefinition allerdings nicht zur Sprache kommt ist das Gegenteil von Kampf und Widerstand – nämlich Kooperation. Und damit ignoriert Weber an dieser Stelle einen ganz zentralen Aspekt von Macht.
Worauf beruhen denn Staaten, Unternehmen, Bewegungen – also große Akteure, die viel Macht ausüben? Sie beruhen auf der Zusammenarbeit vieler verschiedener Menschen. Gemeinsam können diese dann gegebenenfalls auch ihren Willen gegen andere durchsetzen. Die Macht, die notwendig ist, um eine Konfrontation zu gewinnen, beruht auf Kooperation.
Auch für Einzelpersonen gilt das. Ganz interessant fand ich hierzu die Beschreibungen von Barack Obamas Arbeitsalltag, während seiner Zeit als Präsident oft als mächtigster Mensch der Welt bezeichnet, in seiner Biografie. Er ist massiv auf seine Mitarbeiter angewiesen, die das Essen kochen, auf seine Berater, die ihn mit Informationen versorgen, auf seine Partei, die Mehrheiten organisiert, auf seine Familie, mit der er zusammenlebt. Würde der Präsident ständig seinen Willen gegen den Widerstand seiner Mitarbeiter, Berater und Familie durchsetzen müssen, wäre er nicht mächtig. Und er wäre es auch nicht, wenn er statt auf Widerstand auf Teilnahmslosigkeit stoßen würde. Mächtig wird er nur durch die aktive Kooperation anderer mit ihm.
Und auch im Alltag gilt das. Wie sehr kann eine Person auf Dauer ihren Willen durchsetzen, die ständig die Konfrontation sucht und soziale Beziehungen als Kampf versteht? Wie schnell wird sie sich damit sozial isolieren und gänzlich un-mächtig sein? Mich interessiert hier wieder die Dynamik des Macht-Potenzials – und dessen Nachhaltigkeit.
„…gleichviel, worauf diese Chance beruht.“
Die Durchsetzung des eigenen Willens kann laut Weber auf allen erdenklichen Faktoren beruhen. Deshalb bezeichnet er seinen Machtbegriff auch selbst als „amorph“3, das heißt unbestimmt oder unkonkret.
Zurückkommen möchte ich hierbei noch einmal auf Kooperation. Denn die könnte demnach immerhin einer der vielen Faktoren sein, auf denen die Chance der Durchsetzung des Willens beruht. Was ist aber mit Faktoren, die nicht dazu genutzt werden können, um zu kämpfen und Widerstände zu durchbrechen, sondern nur dazu genutzt werden können, zu kooperieren und Widerstände aufzulösen?
Macht messen?
Das Problem bei Webers Definition ist, dass sie das Potenzial, sich in einem Kampf durchzusetzen, als Messgröße für Macht etabliert. Selbst wenn Kooperation sich quasi durch die Hintertür noch in diese Definition integrieren lässt, so auch nur insoweit, wie sie das Potenzial unterstützt, den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen. Freundlichkeit, Vertrauen, Verständnis und ähnliche Faktoren, die sich weniger dazu eignen, in einem Kampf zu gewinnen, aber sehr dafür eignen in der Zusammenarbeit mit anderen gemeinsame Ziele zu erreichen, müssten nach Webers Definition zu weniger Macht führen als etwa Aggression, Lügen oder Gewalt – einfach, da Macht daran gemessen wird, wie hoch die Chance ist, den eigenen Willen auch gegen Widerstand durchzusetzen. Ich würde aber dagegen argumentieren (an dieser Stelle auch erst einmal ganz subjektiv ohne Belege), dass das nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt und sich Machtpotenziale viel besser messen lassen müssten, wenn auch das Potenzial zur Kooperation und die entsprechenden Eigenschaften mehr in den Fokus genommen würden.
Für mich ist in jedem Fall die Frage interessant, wie gemessen werden kann, wer wieviel Macht ausüben kann. Dafür braucht es aber zunächst mal eine Definition von Macht, die möglichst umfassend und gleichzeitig konkret und anwendbar ist. Das würde eine spannende Analyse von aktuellen Machtverhältnissen in spezifischen Situationen ermöglichen. Soweit ich weiß, gibt es noch keine Definition oder Methode, mit der empirisch gemessen werden kann, wieviel Macht ein Akteur ausüben könnte oder tatsächlich ausübt. Auch Webers Definition hilft hierbei nur wenig weiter, da sie eben keinen Hinweis darauf gibt, warum ein Akteur mächtig ist, sie die schwer zu greifende Durchsetzung des Willens als Messgröße für Macht etabliert und den Fokus auf Widerstand statt auf Kooperation legt und dadurch womöglich großes Machtpotenzial ausblendet.
Was steckt alles nicht in dieser Definition?
Ein anderer Machtbegriff könnte also das Konzept des Willens durch ein anderes (etwa konkrete Ziele) ersetzen, neben den Kampf die Kooperation stellen, und bestimmte Aspekte benennen, die Macht konkreter, messbarer und anwendbarer werden lassen.
Eine Definition, die in diese Richtung geht wird mit der Machtdefinition Flor Avelinos bald auf diesem Blog diskutiert. Bis dahin!
Referenzen
Weber, Max (1925) Wirtschaft und Gesellschaft. 5. Ausgabe. Tübingen: JCB Mohr (P. Siebeck), S. 28.
ebd., S. 20.
ebd., S. 28.
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