Ich möchte Foucault lesen, aber wo fange ich an?

Als ich selbst angefangen habe, Foucault zu lesen, fiel mir auf: Ein kurzer Überblick über sein Werk ist Mangelware. Das langsame Durcharbeiten verschiedener Texte Foucaults hat mir zwar auch viel Freude bereitet. Dennoch hätte mir am Anfang ein schneller Überblick über das, was es alles zu entdecken gibt, geholfen. Diesen Überblick möchte ich in diesem Artikel liefern, damit ihr entscheiden könnt, wo eure Foucault-Entdeckungstour beginnen darf.

Warum Foucault lesen?

“Alle meine Bücher […] sind kleine Werkzeugkisten”.1 Das heißt: Foucaults Bücher sind voller Ideen, derer du dich bedienen kannst. In seinen Schriften wirst du viele Ansätze finden, mit denen du weiterdenken kannst, die du verwenden und die du verändern und für dich anpassen kannst. Je nachdem, wofür sie dir nützlich sind. Es ist daher auch völlig okay, viele dieser Werkzeuge gar nicht zu benutzen. Oder zum Teil gar nicht erst zu verstehen, wie sie funktionieren – was zur nächsten Frage überleitet:

Wie Foucault lesen?

Nach meiner Erfahrung ist es am besten, dich nicht mit den Textstellen aufzuhalten, mit denen du gar nichts anfangen kannst, sondern mit den Stellen zu arbeiten, die dir intuitiv zusagen. So schreibt auch Foucaults Spezi Gilles Deleuze, die einzig wichtige Frage beim Lesen eines Buches ist: „Wie funktioniert es für euch? Wenn es nicht funktioniert, nehmt doch einfach ein anderes Buch“.2

Diese Art des Lesens lässt sich bei Foucault wunderbar anwenden. Bei meinem eigenen Einstieg in die Texte habe ich seitenweise überhaupt nichts verstanden und kaum etwas mit den Begriffen und Gedanken anfangen können. Aber nach solchen Abschnitten kamen immer wieder Abschnitte, die ich intuitiv verstanden habe und die mit großer Klarheit an meine eigenen Gedanken andocken konnten.

Für mich hat diese Art, Foucault zu lesen, immer gut funktioniert: Mich nicht mit dem aufzuhalten, was ich nicht verstehe, sondern nur das zu Lesen, was für mich direkt funktioniert. Vielleicht funktioniert das auch für dich. Lass dich nicht davon irritieren, ganze Seiten oder Abschnitte nicht zu verstehen. Nach einiger Zeit wirst du merken, dass immer mehr Abschnitte, die die zuvor unverständlich waren, Sinn ergeben und du an immer mehr Stellen anknüpfen kannst.

Deshalb empfehle ich auch, mit Foucaults Original-Texten zu starten. Denn auch für die Sekundärliteratur gilt: Sie wird einfacher und verständlicher, je mehr du (auch planlos) im Original an Stellen gelesen hast, die für dich funktionieren.

Als einer der meistzitierten Sozialwissenschaftler stehen Foucaults Bücher in jeder (wissenschaftlichen) Bibliothek. Deshalb ist mein Vorschlag: Geh einfach hin, such dir ein paar Bücher aus und fange an zu lesen – immer im Bewusstsein um die Stellen, die für dich funktionieren.

Was von Foucault lesen?

Damit dir die Auswahl deines ersten Foucault-Tetxes leichter fällt, findest du im Folgenden eine Übersicht über die Schriften Foucaults. Dabei solltest du beachten, dass Foucault von sich selbst sagt: „Ich habe weder den Eindruck noch die Absicht, ein Werk zu schaffen. Ich habe vor, bestimmte Dinge zu sagen“.3 Das macht den Einstieg in Foucault vielleicht auch so schwierig. Anstatt ein Hauptwerk vorzulegen, schreibt Foucault zu verschiedenen Zeitpunkten aus unterschiedlichen Perspektiven über spezifische Themen.

Die Suhrkamp Zusammenstellungen

Einen guten Einstieg bieten daher die Zusammenstellungen von Foucaults Texten im Suhrkamp Verlag. Diese versuchen Foucaults Schriften anhand von wiederkehrenden Themen zu sammeln und zu ordnen. Beispielsweise widmet sich Foucault in keinem Buch explizit der Macht oder dem Regieren. Stattdessen kommt er in seinen Büchern immer wieder darauf zu sprechen. Dank der Suhrkamp ausgaben musst du dir allerdings nicht alle Textstellen mühsam zusammensuchen – die Texte wurden bereits für dich zusammengestellt. Erschienen sind dort bislang:

  • Analytik der Macht.
  • Kritik des Regierens. Schriften zur Politik.
  • Geometrie des Verfahrens. Schriften zur Methode.
  • Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst.
  • Schriften zur Medientheorie.
  • Schriften zur Literatur.

Diese Zusammenstellungen sind auch deshalb gut für den Einstieg, da neben den Textstellen aus Büchern auch Auszüge aus Interviews und Vorlesungen vorhanden sind. Im Gespräch drück sich Foucault oft viel verständlicher aus als in seinen Büchern.

Die Bücher

In seinen Büchern hat sich Foucault sehr spezifischen Themen wie dem Wahnsinn, der Klinik oder dem Gefängnis befasst. Mit Foucaults Büchern einzusteigen, bietet sich daher vor allem an, wenn dich ein bestimmtes Thema besonders interessiert. Die Themen sind, entsprechend den Titeln der Bücher:

  • Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft.
  • Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks.
  • Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften.
  • Archäologie des Wissens. [Anmerkung: In erster Linie eine Reflektion über das Analysieren von Diskursen]
  • Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses.
  • Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I.
  • Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit II.
  • Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit III.
  • Die Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit IV.

Die Bücher Foucaults wurden von ihm in Vorlesungen vorbereitet. Mittlerweile sind diese Vorlesungen auch in Buchform erschienen. Dies schreibe ich eher als Warnung. Sei nicht überrascht, wenn du hinter einem interessanten Titel wie etwa „Die Geburt der Biopolitik“ ein Buch erwartest, aber eine Vorlesungsreihe vorfindest. Die Vorlesungen bieten eine wichtige Fülle an Material, wenn du tiefer in Foucault einsteigen möchtest. Zum Starten eignen sie sich allerdings weniger – vor allem, da die wichtigsten Vorlesungstexte auch in den Suhrkamp-Zusammenstellungen abgedruckt sind.

Die Merve Zusammenstellungen

Zuletzt möchte ich dir noch eine charmante Variante vorstellen, in das Foucault-Lesen einzusteigen. Das sind die Zusammenstellungen von Foucault-Texten in den Büchern des Berliner Merve-Verlags. Im Unterschied zu denen im Suhrkamp-Verlag sind diese bereits zu Lebzeiten Foucaults erschienen. Du kannst mit diesen Büchern deshalb nachvollziehen, wie Foucault während seines Schaffens in Deutschland gelesen und diskutiert wurde und dir so einen historischen Zugang zu Foucault schaffen, der die gleichen Vorteile in puncto Thematik und Verständlichkeit aufweist wie die modernen Suhrkamp-Zusammenstellungen. Im Merve-Verlag sind beispielsweise erschienen:

  • Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit.
  • Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin.
  • Der Faden ist gerissen. Gilles Deleuze und Michel Foucault.
Die Sekundärliteratur

Als Begleitlektüre zum Foucault-Lesen kann ich dir drei Werke ans Herz legen:

  • Ulrich Brieler: Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker.
  • Philipp Sarasin: Michel Foucault zur Einführung.
  • Hubert L. Dreyfus & Paul Rabinow: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik.

Ich wünsche dir viel Freude beim Lesen!

P.S. Hier eine persönliche Zusammenstellung von Texten als bunter Mix zum starten:
  • Diskurse analysieren
    • Foucault, M. (1991) Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt am Main: Fischer, S. 9 – 25.
    • Jäger, S. (2015): Kritische Diskursanalyse: eine Einführung. Münster: Unrast Verlag, S. 7-13 und 17-29.
  • Subjektivierung – der Kern von Foucaults Machttheorie
    • Subjekt und Macht, in: Foucault, M. (2005) Analytik der Macht. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 240-263.
    • Macht als produktives Netz, in: Kuhn, G. (2005) Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden. Eine Einführung in die politische Philosophie des Poststrukturalismus. Münster: Unrast Verlag, S. 113-120.
  • Mit Foucault die Pandemie verstehen
    • Sarasin, P. (2020) Mit Foucault die Pandemie verstehen? [online] https://geschichtedergegenwart.ch/mit-foucault-die-pandemie-verstehen/
    • Der Panoptismus, in: Foucault, M. (1976) Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 251-261 und 264-266.
    • Foucault, M. (2004) Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 24-26 und 90-98.
  • Revolution und die Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden
    • Was ist Kritik?, in: Foucault, M. (2010) Kritik des Regierens. Schriften zur Politik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 237-257.
    • Der paranoid-reaktionäre Wunsch, der schizo-revolutionäre Wunsch, das Außen, Aktion statt Repräsentation, in: Kuhn, G. (2005) Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden. Eine Einführung in die politische Philosophie des Poststrukturalismus. Münster: Unrast Verlag, S. 138-153.
P.P.S. Hier findest du noch einen Zeitstrahl zu Foucaults Veröffentlichungen:
Das Bild stellt Foucaults Veröffentlichungen anhand eines Zeitstrahls dar. Aufgeführt sind die folgenden Veröffentlichungen:
Monografien:
1961: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft.
1961: Einführung in Kants Anthropologie.
1963: Raymond Roussel.
1963: Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks.
1966: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften.
1969: Archäologie des Wissens. 
1975: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses.
1976: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I.
1984: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit II.
1984: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit III.
2018: Die Geständnisse des Fleisches. Sexualität und Wahrheit IV.

Vorlesungen:
1970: Die Ordnung des Diskurses
1971: Über den Willen zum Wissen
1972: Theorien und Institutionen der Strafe
1973: Die Strafgesellschaft
1974: Die Macht der Psychiatrie
1975: Die Anormalen
1976 In Verteidigung der Gesellschaft
1977: Keine Vorlesung
1978: Sicherheit, territorium, Bevölkerung - Geschichte der Gouvernementalität 1
1979: Die Geburt der Biopolitik - Geschichte der Gouvernementalität 2
1980: Die Regierung der Lebenden
1981: Subjektivität und Wahrheit
1982: Hermeneutik des Subjekts
1983: Die Regierung des Selbst und der Anderen
1984: Der Mut zur Wahrheit - Die Regierung des Selbst und der Anderen 2

Referenzen

  1. Foucault, M. (1976). Mikrophysik der Macht: Michel Foucault über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin. Berlin: Merve, S. 53.
  2. Deleuze, G. (1993). Unterhandlungen: 1972 – 1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 18.
  3. Foucault, M. (2012). Das giftige Herz der Dinge: Gespräch mit Claude Bonnefoy. Zürich: Diaphanes, S. 68.

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Kommentare

Eine Antwort zu „Ich möchte Foucault lesen, aber wo fange ich an?“

  1. […] und bietet wieder die Ausgangslage für eine weitere Verschiebung. So zumindest beschreibt Foucault, auf den sich Mouffe viel bezieht, eine Art wie Macht im Diskurs ausgeübt wird. Und so stelle ich […]

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